Meinung: Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder. Eine eigene Bewertung bedeutet nicht automatisch, richtig zu liegen. Keiner von uns kann es leisten sich dafür zu verbürgen, dass die Zukunft ihm Recht gibt. Doch wir können zur Demokratie beitragen bringen wir uns ein, nach bestem Wissen und Gewissen. (Stev Drews/DER-BARNIMER)
Nur ein Name. Ein Name der auch Ursula, Helga, Gisela, Inge, Ingrid, Ingeborg oder Ilse lauten könnte. Ein Name stellvertretend für Frauen, die uns bald verlassen, die uns verlassen haben. Frauen die uns etwas entscheidendes voraus haben oder hatten – ein Leben. Stellvertretend für all diese Frauen soll sie nun stehen. Sie ist fiktiv und dennoch wahrhaftig.
Gerda nur ein Name?
Eine alte Frau verbringt ihre letzten Tage in einer Pflegeeinrichtung in Deutschland. Wir nennen sie Gerda. Nun ist sie inzwischen 90 Jahre alt. Im Jahr 1930 geboren, Gerda blickt auf ein langes, bewegtes und aufregendes Leben zurück. Im Jahr 1950 gebar Gerda ihre erste Tochter, wenig später dann das zweite Mädchen. Beide bekamen ebenfalls Kinder. Im Jahr 1970 wurde Gerda mit Leib und Seele zu einer Oma. Anfang 1995 ist es wieder soweit. Unsere Gerda, nun ist Uroma und glücklich, auch darüber, dass ein Junge, ein kleiner Stammhalter, das Licht der Welt erblickt. Sie denkt oft daran, wie wenige ihrer Freunde und Bekannten solch Segen erleben dürfen.
Beinah glückselig
Ganz aktuell 2020 ist Max zur Welt gekommen und Gerda ist Ur-Uroma. Die Ohrringe baumeln, die etwas lichter gewordenen Haare macht sie zurecht. Die Pfleger meinen, die Geburt des Ur-Urenkel wirkt wie ein Energieschub. Doch ihr Körper ist gezeichnet, die Haut mit Falten übersät, ihre Augen schon etwas zurück in die Augenhöhlen gesunken und trüb. Beinah ist Gerda glückselig. Doch dann stirbt sie. Am Ende weinte sie viel, fühlte sich allein. Wo war ihre Familie, wo war Max, den sie so gerne wenigsten einmal gesehen hätte? Wo waren all ihre Lieben, all ihre Herzenmenschen – für die sie gelebt hatte?
Was haben wir nur getan? – “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”
Wer bin ich über die Würde des Menschen zu schreiben? Wer sind wir, die darüber reden? Was ist Menschenwürde? Was ist Ethik? Haben wir Gerda ihre Würde genommen? All das sind Fragen, die mich, die uns beschäftigen sollten, uns Bürger in diesen Tagen beschäftigen müssen, wenn wir unser Grundgesetz, Artikel 1, Satz 1 zitieren. Es wird schwer, denn wir bewegen uns zwischen Wunsch und Ratio. Unsere Welt verändert sich. Fast täglich haben wir das Gefühl, von unserem eigenen Leben überholt zu werden. Haben wir die Würde eines alten Menschen durch Demütigung verletzt?
Demütigung kann auch passiv geschehen, indem unterlassen wird, was notwendig wäre: wenn zum Beispiel eine Gesellschaft nicht die Ressourcen bereitstellt, damit alle Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, gut versorgt werden können, oder wenn ganz einfach die Sensibilität für den würdigen Umgang mit Menschen fehlt.
Quelle: https://www.thieme.de/de/pflege/scham-wuerde-pflege-133355.htm
Soziale Kontakte – Beziehung zu anderen Menschen
Seit dem Jahre 1938 stellt ein Harvard-Team unter der Leitung des amerikanischen Psychiaters Robert Waldinger Untersuchungen an, um der Antwort auf die Frage, “wie gelingt das Leben?”, näher zu kommen.
Dazu wurden 2 Gruppen von Männern in zwei getrennten Langzeitstudien beobachtet. Durch systematisches Vorgehen wollten die Forscher wissenschaftlich belegte und belastbare Hinweise finden, was Menschen einem glücklichen und erfüllten Leben näher bringt. Die überragende Erkenntnis der Studie lautet:
„Das mit Abstand wichtigste ist die Bindung. Dabei geht es nicht unbedingt um die Bindung zum Lebenspartner, sondern eher um die grundsätzliche Beziehung zu anderen Menschen und zwar im Sinne einer menschenliebenden und einfühlsamen Verbindung.“
Robert Waldinger, Vater der Studie
Weitere Studien zum Thema Einsamkeit als Sterberisiko
Auch Wissenschaftler der Brigham Young University in Utah belegten, durch 148 Studien mit Daten von 308.000 Menschen aus westlichen Ländern, das Sterberisiko durch Einsamkeit. Im Schnitt wurden die Studienteilnehmer über einen Zeitraum von ca. 7,5 Jahren beobachtet.
Einsamkeit und ein Mangel an sozialen Beziehungen können für die Gesundheit ebenso schädlich sein, wie beispielsweise das Rauchen von ca. 15 Zigaretten täglich. Verfügt man hingegen über ein gutes soziales Netzwerk, kann man das Sterberisiko bereits um die Hälfte verringern.
Quelle: Wissenschaftler der Brigham Young University in Utah
Heuchelei und Feigheit
Wir wussten also, was Gerda schaden könnte. Wir wussten es und nahmen es in Kauf. Weil wir Gerda schützen wollten? Wirklich? Weil wir eine 90jährige Frau vorm Tod bewahren wollten? Ernsthaft? Welch armselige Heuchelei. Ging es doch wohl eher darum, ein Pflegesystem, das an der Grenze des Machbaren arbeitet, vor Überlastung zu schützen. Wir verstecken, verschleiern, drücken uns vor unangenehmen Fragen. Diese sind sehr schnell zu finden.
Wer hat unsere Pflege so malträtiert? Wer bringt Pflegekräfte an die absolute Grenze des Machbaren. Wer lässt das zu? Wer redet sich die derzeitigen Zustände schön, um sein Gewissen zu beruhigen? Wer ist zu feige, aufzubegehren, weil er selber zu keiner besseren Lösung im Stande ist?
Und ja, es ist nicht einfach. Ja, die Zwänge, die das Leben in unserer Gesellschaft mit sich bringt sind erdrückend. Doch sind sie alternativlos oder haben wir einfach einen falschen, den einfachen Weg beschritten? Warum sehe ich überhaupt mehr alte Biodeutsche in Pflegeheimen, als Menschen aus ursprünglich anderen Kulturen? Was heißt Familie überhaupt noch? Wir haben wohl eine Menge Stoff, um zu reden.
Gerda und die Ethik
Der Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh zeichnet ein Science-Fiction-Szenario einer “Gesundheitsdiktatur” schon für das Jahr 2057. Zeh beschreibt ein System, in dem Gesundheit zur obersten Bürgerpflicht geworden ist. Nicht ohne Grund hat die “Akademie für Ethik in der Medizin” die Schriftstellerin zu einer Lesung aus ihrem Buch nach Göttingen eingeladen. Dort beschäftigten sich auf der 25. Jahrestagung der Akademie Ärzte, Politiker und Juristen mit dem Thema „Die Selbstbestimmung des Patienten und die Medizin der Zukunft – Perspektiven einer Medizinethik des 21. Jahrhunderts“. Sicherlich sind entsprechende Fragen auch für den Bereich der Pflege relevant. Selbstbestimmung, gerne auch Autonomie genannt ist ein Hauptbestandteil unserer Medizinethik. Ihr entgegen stehen kann ggf. nur ein weiterer wichtiger Grundsatz das Prinzip “Primum non nocere”. Er bedeutet übersetzt soviel wie “erstens nicht schaden”.
Was also hat Gerdas Würde geschadet?
Ist es entwürdigend für eine 90jährigen Dame, dass wir akzeptieren, dass sie wohl bald sterben wird? Oder ist es entwürdigend, wenn wir sie einsam zurücklassen, vielleicht in der Hoffnung – unseren Trennungsschmerz noch etwas zeitlich verschieben zu können. Erhalten wir die Würde des Menschen dadurch, dass wir über ihn bestimmen? Bedeutet es nicht eher individuell auf entsprechende Wünsche einzugehen? Dieses leisten zu können, dafür Vorraussetzungen zu schaffen, anstatt sie zu vernichten, hätte das nicht die unantastbare Würde, auch von Gerda, gesichert?
Artikel 1: Grundgesetz
(Satz 1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Und damit – ist Die Würde des Menschen auch unsere erste Verpflichtung.